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Fußball kann so egal sein

Christian Gentners Vater verstarb nach dem Spiel VfB Stuttgart vs. Hertha BSC noch im Stadion. Fußball kann so egal sein manchmal. Unser Autor Thomas Poppe weiß das nur zu gut und denkt zurück an seinen Opa, mit dem er stets über Fußball sprechen und debattieren konnte. Und der plötzlich nicht mehr da war.


1999 war das schlimmste Jahr meines Lebens. Ich war 17, pubertierte, war schlecht in der Schule und hatte eigentlich nur Fußball im Kopf. Die Welt war furchtbar ungerecht, weil ich sie nicht erobern durfte, die Mädels alle doof, weil sie mir nicht hinterher rannten und die Familie konnte natürlich nicht das auffangen, was Hormone mit einem Teenie anrichten. Nur Opa war irgendwie immer da. Weil der Fußball uns einen gemeinsamen Nenner jenseits der ganzen anderen Scheiße gab. Er war immer dabei, wenn ich spielte, größter Kritiker, allergrößter Fan. Wie oft kam ich nochmal für fünf Minuten zum ihm ins Wohnzimmer, als Oma längst schlief und es wurden zwei Stunden, weil unser kleiner Stammtisch wichtige Fußball-Debatten führen musste. Im März 1999 kam ich zu ihm – er war gerade 70 geworden – um ihm von unserem Testspiel im Nachbarort zu berichtete. Gefühlt das erste Spiel, bei dem er seit 14 Jahren nicht dabei war. Und dann ging ich ins Bett, am nächsten Tag in die Schule und als ich wieder kam, war er nicht mehr da.

Ich wollte diese Ungerechtigkeit nicht begreifen. Drei Wochen lang ging ich nicht mehr in die Schule, weil ich es nicht konnte. Ich hasste alles und jeden, weil ich nie gelernt hatte, mit Verlusten umzugehen und mir dann plötzlich dieser Anker einfach so und mit voller Wucht abgerissen wurde. Heute bin ich 37 und Fußball war mir nie gleichgültiger als in diesen März-Tagen 1999. Als meine Bayern souverän mit zwei Siegen über Lautern ins Halbfinale der Champions League einzogen, nahm ich es achselzuckend zur Kenntnis. Aber es war dann eben auch der Fußball, der es dann schaffte mich wieder aufzubauen. Ich wollte wieder in die Schule, weil ich wieder zum Training wollte. Ich wollte wieder spielen, weil ich für Opa ein Tor erzielen wollte. Ich wollte, dass meine Bayern gegen Kiew ins Finale stürmen.

Fußball – 90 Minuten Ablenkung auf dem schweren Weg zurück ins Leben danach

Es war der Fußball, der leisten konnte, was für Freunde und Familie kaum möglich war. Weil er nicht die richtigen Fragen stellen musste, sondern einfach da war und 90 Minuten Ablenkung schaffte. Weil er voll gepackt war mit wundervollen Erinnerungen. Nach meinem ersten Tor weinte ich. Als die Bayern in Kiew nach 0:2 und 1:3 noch 3:3 spielten und Basler im Rückspiel das Finale klarmachte, empfand ich das erste Mal wieder echte Freude. Die nächsten Wochen lebte ich nur für dieses Finale in Barcelona gegen Manchester United und als die „Mutter aller Niederlagen“ abgepfiffen war, passierte etwas seltsames: Natürlich war es nicht so geil, aber es war eben auch nicht der Weltuntergang, weil ich den schon im März erlebt hatte. Und weil die nächste Saison und die nächste Chance im Gegensatz zu Opa wieder kommen würde.

Das Leben ist so viel mehr als Fußball und dieser banale Sport kann in manchen Momenten so unfassbar egal sein. Aber er kann eben auch verbinden, Kraft geben, ablenken, glücklich machen, Wut und Frust abbauen und Hoffnung schaffen. Er kann so tolle Erinnerungen in deinen Kopf pflanzen. Mein erstes  Fußballcamp, für das Opa und Oma extra am Arsch der Welt „Wanderurlaub“ machten. Meine erste Meisterschaft, die standesgemäß mit uns 6-Jährigen im Bulldog-Korso durch unser Kaff gefeiert wurde. Der Tag, an dem ich 14 Buden in einem Spiel machte und ein Fünfmarkstück als Belohnung bekam. Pokalabend auf dem Teppich in Opas Wohnzimmer, wenn Oma aus Prinzip für den Underdog war und Opa immer kritisch in Sachen Bayern-Aufstellung. Wenn ich heute zurückdenke, rollt fast immer irgendwo in der Erinnerung im Vorder- oder Hintergrund ein Ball herum, wenn es um Opa geht. Und auch, weil Fußball noch immer mein Sport ist, vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denke.

In Gedanken bei Christian Gentner und seiner Familie

Fußball kann so egal sein. Und als ich erfuhr, dass Christian Gentners Vater nach dem Spiel VfB Stuttgart vs. Hertha BSC im Stadion starb – noch nicht mal 70 Jahre alt – kam vieles aus dem März 1999 wieder hoch. Ich wünsche Christian Gentner und seiner Familie ganz viel Kraft. Ich wünsche ihm, seiner Mutter und seinen Brüdern, dass der Fußball wieder wichtig wird, ablenkt, Mut macht, Lächeln und Freude zurück bringt und dass er ganz viele Erinnerungen mit Papa Herbert hinterlässt, der auch immer dabei war. Fußball kann so egal sein und manchmal dann eben doch auch so wichtig.


Von Thomas Poppe