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W-Ähm #5: Zurück in die Zukunft

Der Ball rollt in Brasilien und Johannes Mittermeier schaut ganz genau hin. Wöchentlich hält er an dieser Stelle für FUMS seine Beobachtungen fest und arbeitet auf, was alle anderen Medien nicht schaffen. Er durchdringt die zugewucherten Sphären des alltäglichen WM-Wahnsinns und kämpft für stupide Wortspiele und flache Witze.


Opa, Opa, du musst mir etwas sagen!

Du bist noch wach? Um diese Uhrzeit?

Aber Opa, wir befinden uns im Jahr 2064! Man muss nicht mehr zu festen Terminen schlafen gehen, daran solltest du dich langsam gewöhnen. Außerdem will ich unbedingt wissen, was es mit dem Fussballspiel zwischen Deutschland und Brasilien bei der WM 2014 auf sich hat. Bitte erzähle mir davon!

Kind, nimm doch deine Datenbrille, oder noch besser, simuliere die Geschehnisse durch Magnetismus. Schließlich ist das menschliche Gehirn unendlich behäbig geworden.

Ich will es aber von dir hören! Ganz persönlich. So wie früher, als es noch keine Hologramme gab und keine individuellen Konfigurationen und auch keine biometrische Erkennung auf den Datendisplays. Manchmal wünschte ich, am Anfang des Jahrtausends gelebt zu haben. Ich stelle es mir schön vor, dass man offline gehen konnte, wenn man wollte, das meintest du doch, Opa? Ohne injizierte Sensoren, die Gedanken lesen und vollautomatisiert neue Materien programmieren. Ohne Fernsteuerung. Das muss toll gewesen sein. Sag, Opa, wie war das früher? Was war mit Deutschland bei der Fussball-WM 2014? Was war überhaupt eine WM? Und was Fussball?

Du hast Recht, Kind, es war eine andere Zeit. Wir glaubten, groß zu sein mit Technik der Zukunft. Wie lachhaft. Wir hatten keine verpflanzten Messinstrumente, sondern Widgets wie Smartphones und Tablets. Damit wollten wir uns vernetzen, global. Der Mensch bildete sich ein, modern zu sein und innovativ, dabei war er dumm. Wir hatten Facebook und Twitter, soziale Medien. Wir mussten auf umständlichen Wegen für Prozesse sorgen und entblößten ridikül Informationen. Das musst du dir vorstellen, Kind, wir schmissen mit unseren Daten nur so um uns! Und keine Dioden haben Warnsignale ausgestoßen!

Und der Fußball, Opa? Wieso hat mein System einen bedeutenden Jahrestag angezeigt? 8. Juli 2014, Jahrhundertspiel, das leuchtete soeben auf dem Display.

Fussball war ein schöner Sport. Aber schrecklich naiv. 22 Menschen liefen völlig unkontrolliert einem plastischen Objekt hinterher, und wer dieses Gerät nach eineinhalb Stunden häufiger im Zielraum des Gegners untergebracht hatte, der gewann. Fussball war sakrosankt, die Menschen liebten das Spiel.

War Deutschland gut im Fussball?

In der Tat, Kind, Deutschland zählte zu den stärksten Nationen. Allerdings warteten sie zum Zeitpunkt der WM 2014 bereits 24 Jahre auf den Titel. Das war eine lange Periode. Alle vier Jahre richtete der Weltverband FIFA ein Turnier aus, jeweils an anderer Stelle. Die besten Länder des Planeten versammelten sich und ermittelten ihren Weltmeister.

Mein Chip hat angezeigt, dass Deutschland durch einen Mann namens Joachim „Jogi“ Löw zu einem Meilenstein der Fussballgeschichte geleitet wurde. Gegen Brasilien, in Brasilien. Heute vor 50 Jahren. Kannst du dich erinnern, Opa?

Zwar lässt die Speicherkapazität meines Rechenzentrums inzwischen nach, aber diesen Tag werde ich mir lebendig bewahren. Jogi Löw war als sogenannter Bundestrainer der Chef der deutschen Mannschaft. Am 8. Juli 2014 traf er auf Brasilien, den damaligen Rekordweltmeister und Turnier-Gastgeber. Löw war nicht unumstritten beim deutschen Volk, er hatte acht Jahre gute Arbeit geleistet, die wichtigen Spiele jedoch stets verloren. Bei der WM 2014 kulminierte die Kritik nach einem matten Erfolg über Algerien. Das Pamphlet war ohrenbetäubend. Der deutsche Abwehrspieler Per Mertesacker giftete deswegen gegen die Öffentlichkeit, weil ihm missfiel, sich für den Sieg entschuldigen zu müssen. Mertesacker – unglaublich, nebenbei erwähnt, welche Namen die Menschen seinerzeit trugen.

Haha, Opa, das ist lustig! Was ereignete sich nun gegen Brasilien?

Verglichen mit dem Auftritt gegen Algerien präsentierte sich Deutschland wie ausgetauscht. Es schien, als besäße Bundestrainer Löw einen Plan. Löw war immer ein wenig belächelt worden, weil er mondän gekleidet war und merkwürdig sprach. Aber an diesem 8. Juli 2014 lieferte er sein Meisterstück ab. Die Mannschaft konnte auf ein Reservoir hervorragender Spieler zurückgreifen, etwa den eloquenten Verteidiger Mats Hummels, die Torwart-Krake Manuel Neuer oder den eigenartigen Offensivakteur Thomas Müller.

Deutschland ging – durch Müller – in Führung, dann wurde die Historie verschoben: Der Angreifer Miroslav Klose markierte das 2:0. Klose war zu diesem Zeitpunkt 36 Jahre alt. Wie du weißt, Kind, reproduzierten sich Stammzellen und mutierten Gene noch nicht von alleine, wenn Bedarf bestand. Klose war also ein medizinisches Phänomen, gerade im Tropenklima. Sein Treffer hievte ihn an die Spitze der ewigen Torschützenliste; er hatte mehr Tore bei WM-Turnieren erzielt wie jeder Spieler vor ihm.

Wow, Klose! Was kam danach?

Klose traf in der 23. Minute. Das werde ich nie vergessen. In den folgenden sechs Minuten schoss Deutschland drei weitere Tore. Gegen Brasilien! Nach einer halben Stunde Spielzeit stand es 5:0, es war ein surreales Geflecht im Gefecht. Auf Twitter explodierte die Frequenz der Einträge, so überfordert waren die Nutzer mit der Einordnung. Immerhin gab es noch Dinge, die nicht zu erklären waren, sie passierten einfach. Heute, dank projizierter Bedienoberfläche, wirkt ein derartiger Überschwall wie die Steinzeit 2.0.

Wurden Löw und Deutschland dann endlich Weltmeister, Opa?

Zunächst besiegte Deutschland die Brasilianer mit 7:1-Toren und zog ins Endspiel ein. Es war die perfekte Zelebration des Jogi bonito, während Brasilien ob der grotesk gescheiterten Mission von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Im Finale wartete Argentinien, Erzfeind der Brasilianer. Du kannst dir ausmalen, dass Deutschland die Unterstützung der Einheimischen genoss. Brasilien hätte es nicht ertragen können, wenn sich Argentinien in ihrem Land zum Weltmeister kürt… Was ist mit dir, Kind?

Ich fühle mich plötzlich so kraftlos. Haben meine Systeme einen temporären Defekt?

Keine Sorge, es ist alles in Ordnung. Aber deine Messinstrumente müssen sich entladen. Auch hochgezüchtete Sensoren brauchen mal Ruhe…


 

Von Johannes Mittermeier