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Deniz Aytekin und die Bosstransformation unserer größten Pfeife

Sind wir mal ehrlich: Schiri sein ist ein undankbarer Job. Immer unter Beobachtung, immer unter Beschuss, umzingelt von Testosteron-Bubis und wenn du richtig gut bist, merkt es niemand, weil du so unauffällig bist. Auffällig unauffällig ist zuletzt Deniz Aytekin, der früher eher für kollektives Augenrollen sorgte, wenn er im Rahmen einer Spielansetzung auftauchte. Unser Head of Humor Thomas Poppe weiß zwar nicht, wo Aytekins Auto steht – macht aber nichts, denn entgegen aller Trends hat er nur Lob übrig für den erfahrenen Unparteiischen.


Es gibt diese Jobs, die unfassbar anspruchsvoll sind, aber für die man quasi nie Lob erntet. Busfahrer zum Beispiel. Hat schon mal irgendjemand einem Busfahrer auf die Schulter geklopft, weil er 50 Leute bei strömendem Regen und Sturm sicher ans Ziel gebracht hat? Aber wenn der Malle-Flieger bei bestem Wetter gelandet ist, applaudiert der komplette Vollsuff-Frachter fröhlich drauf los. Auch in der großen weiten Welt des Fußballs sind die Klatscher oft ungerecht verteilt. Während der hochbezahlte Stürmer für jeden Abstauber angehimmelt wird, ist für Schiedsrichter das Prädikat „Keine Kritik“ schon der größte Lob. Für einen aus der Zunft der Unbeklatschten gibt’s heute eine dicke Ladung Applaus: Deniz Aytekin, der den Begriff „größte Pfeife“ für sich komplett neu definiert hat.

Ich will nicht sagen, dass Deniz Aytekin mal ein schlechter Schiedsrichter war. Es war einfach das Gesamtpaket, dass mich immer ein wenig innerlich raunen ließ, wenn er irgendwo angesetzt war. Arrogant wirkte er auf mich, unsouverän manchmal und unnahbar dazu. Vielleicht hab ich ihn missverstanden, falsch wahrgenommen. Aber am Anfang seiner Karriere ging das nicht nur mir so. Max Eberl war 2011 mal richtig sauer auf ihn und meinte empört: „Er kann nicht auf der einen Seite konsequent pfeifen und auf der anderen wie eine Wurst.“ Gladbach-Fans nahmen das Zitat zum Anlass und schickten Würste an den DFB. „Zu Händen an Oberwurst Aytekin“ stand auf den Briefen.

Deniz Aytekin 2012: Gelb und Gelb-Rot für Szabolcs Huszti

Und es gibt diese Szene von 2012, da schießt Szabolcs Huszti für Hannover in der 93. Minute das 3:2 gegen Werder Bremen. Per Fallrückzieher. Huszti zieht, überwältig vom geilsten Tor seines Lebens, sein Trikot aus und springt auf den Zaun, feiert mit den Fans. Aytekin zeigte die Gelbe Karte. Für das Trikot. Und dann Gelb-Rot. Für den Zaun. Korrekt, laut Regelwerk. Aber es war eben genau dieses nicht vorhandene Fingerspitzengefühl, den Jubel als Gesamtkunstwerk mit einer einzigen Gelben zu strafen, das den Betriebswirt und Unternehmer nicht gut aussehen lies. Niemand hätte sich beschwert, nicht mal die Bremer. Die waren sauer auf den Unparteiischen, weil er einen fairen Zweikampf von Sokratis als Foul bewertete und auch nach Sichtung der TV-Bilder auf Richtigkeit seines Pfiffes bestand. Unsouverän und unsympathisch wirkte das damals.

Zeitsprung. 2019. Union hat die Hertha im Hauptstadt-Derby zu Gast. Die Tribüne brennt. Literally, wie der Amerikaner sagt. Bengalos fliegen in Richtung der Bänke. Aytekin unterbricht, schätzt die Lage ein. Er hat schon einmal ein Spiel abgebrochen. St. Pauli gegen Schalke war das und ein voller Bierbecher hatte seinen Assistenten Thorsten Schiffner drei Minuten vor dem regulären Ende im Nacken getroffen. Der Abbruch – einer von nur sieben in der Bundesligageschichte – war korrekt, keine Frage. Aber vielleicht hatte Aytekin auch noch die wütenden Fans auf dem Weg in die Katakomben in Erinnerung, als er von Schirmen vor Wurfgeschossen geschützt werden musste. So brachte er das Union-Spiel über die Bühne, obwohl ihm keiner einen Abbruch verübelt hätte und stand im Anschluss souverän am Sky-Tisch. Er erklärte dort, dass er damit auch eine Eskalation unter den Fan-Gruppen verhindern wollte und nicht nur an das Spiel dachte, sondern auch an die Konsequenzen eines frühzeitigen Endes. An diesem Tag hätte Aytekin „Man of the match“ werden müssen. Souverän, sympathisch, gut.

Deniz Aytekin: Die größte Pfeife der Nation

Hört man den 2019er Aytekin sprechen, möchte man ihn auf die nächste Party einladen, damit man bei zwei, drei Bierchen über Fußball, Gott und die Welt mit ihm schnacken kann. Kaum jemand wirkt so gelassen und ausgeglichen. So gut, wie er als DJ am Plattenteller ist, so gut ist er mittlerweile auch auf dem Platz aufgelegt. Er redet in Interviews offen davon, dass Fußball nicht der einzige Lebensinhalt sein sollte und beklagt das „immer funktionieren müssen“ auch in anderen Teilen der Gesellschaft. Beim Leistungstest vor der Saison fiel er durch, weil er verletzt war. In der Presse war direkt von Versagen die Rede. Ein Unding. Aytekin hat keine Angst mehr vor Fehlern, sagt er. Vielleicht macht er auch deswegen fast keine mehr. 1,97 Meter misst er und ist nicht nur deshalb ist er aktuell die größte Pfeife der Nation. Auch Spieler finden ihn super. Mittlerweile. Bei Sergio Ramos entschuldigte er sich dieses Jahr in der Halbzeit eines Länderspiels für eine Gelbe Karte, die er wegen eines Missverständnisses gezückt hatte. Das kommt an.

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Ein Drittel der Bundesliga-Spieler hatte ihn 2011 noch zum unbeliebtesten Unparteiischen gewählt – 2019 war er Schiedsrichter des Jahres und sollte auch 2020 kaum schwächere Quoten haben als Lewandowski auf die Torjägerkanone. Vielleicht war Deniz Aytekin wirklich mal ein mäßiger Schiedsrichter und trat unsouverän auf. Sein Auftreten heute zeigt aber auch, dass es nicht nur bei Spielern im Laufe der Karriere steil nach oben gehen kann. Der gebürtige Nürnberger, Sohn einer klassischen Einwanderer-Familie, ist in der Weltklasse angekommen. Mit 41 Jahren hat er noch 6 Jahre in der Bundesliga. Und wenn er das Niveau hält, sollte der DFB ernsthaft überlegen, ob die Altersgrenze von 47 Jahren nicht spätestens 2025 aufgehoben werden sollte. 168 Bundesligaspiele hat der Franke jetzt auf dem Buckel, Champions League, Pokal, zweite Liga, Länderspiele. Die nächste EM und die nächste WM könnten seine großen Bühnen werden und wenn „Die Mannschaft“ sich ähnlich anstellt wie in Russland, ist vielleicht sogar das Finale möglich. Zu gönnen wäre es ihm. Applaus und Respekt für den aktuell Besten unter denen, die viel zu selten Applaus und Respekt bekommen.


Von Thomas Poppe
(bekommt bei FUMS keinen Applaus – wozu gibt es schließlich Likes in Sozialen Netzwerken? Anm. d. Red.)