Hakan Çalhanoğlu und die Türkei wollen die EM 2024 erreichen.
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EM-Vergabe und -Quali: Der türkische Fußball am Scheideweg

Freude in der Türkei: Sie tragen gemeinsam mit Italien die EM 2032 aus. Die aktuelle sportliche Lage der Nationalmannschaft ist allerdings angespannt. Am Donnerstag steht der türkische Fußball vor einem wegweisenden Spiel.

Im türkischen Fußball ist gerade einiges los: Während Galatasaray beim 3:2-Sieg in der Champions League bei Manchester United den ersten Erfolg auf englischem Boden feierte, gab es in der Süper Lig am Dienstag nach acht Spieltagen bereits die achte Trainerentlassung.

Und auch auf Nationalmannschaftsebene gibt es viele Themen, die parallel laufen. Am selben Dienstag vergab die UEFA die Austragungsrechte für die EM 2028 und 2032. Während das Turnier in fünf Jahren im Vereinigten Königreich (England, Wales, Schottland, Nordirland) und Irland ausgetragen wird, bekamen Italien und eben die Türkei den Zuschlag für vier Jahre danach. Damit geht ein Traum in Erfüllung.

Lange hat die Türkei gewartet

Denn seit Jahrzehnten bemüht sich der Fußballverband um eine Austragung der EM. Im gesamten Land wurden im Laufe der vergangen Jahre neue Stadien errichtet, die Timsah-Arena in Bursa beispielsweise sieht aus wie ein Krokodil, kein Witz. 2008 (gemeinsam mit Griechenland), 2012 und 2016 scheiterte man. Auch 2020 bewarb man sich.

Als sich die UEFA entschied, das Turnier auf dem ganzen Kontinent auszutragen, bot man ihnen an, das Finale in Istanbul auszutragen. Der Türkische Fußballverband (TFF) lehnte ab, da man sich gute Chancen für eine alleinige Austragung 2024 ausrechnete. Da gewann aber die deutsche Bewerbung mit 12:4 Stimmen.

Also schickte man sich auch für die EMs 2028 und 2032 ins Rennen. Nachdem klar war, dass die Bewerbung des UK und Irlands mehr Chancen hat, konzentrierte man sich schließlich auf das spätere Turnier – Mitte 2023 tat man sich mit Mitkonkurrent Italien zusammen und wird nun gemeinsam das Turnier austragen.

Kuntz auf Kurs und ohne Job

Sunny side up, endlich, könnte man meinen! Doch es plagen auch sportliche Sorgen, denn: Die Qualifikation für die EM 2024 in Deutschland wackelt. Am im September ausgetragenen 5. Spieltag in der Gruppe D reichte es zu Hause gegen Armenien nur zu einem 1:1, was letztlich Trainer Stefan Kuntz den Job kostete.

So richtig verstehen konnte der ehemalige deutsche U21-Trainer seine Entlassung nicht: „Der Verbandsvorstand, der mich geholt hat, hat sich geändert. Mit der Zeit zeichnete sich ab, dass es kein Vertrauensverhältnis und die nötige Unterstützung gab. Darum habe ich diese Entwicklung im Stillen schon erwartet. Es ist eine schlechte Entwicklung, denn wir hatten viele Punkte geholt. Es ist schwer, einen Grund zu finden, warum ich als türkischer Nationaltrainer entlassen wurde. Und sie haben immer noch keinen Grund gefunden“, sagte Kuntz in der Sportschau.

Blickt man auf die Zahlen, fällt es einem tatsächlich schwer, sportliche Argumente zu finden. Mit einem Punkteschnitt von 1,95 pro Spiel liegt er nur hinter Trainer-Legende Fatih Terim (2,05). Er übernahm das Team im September 2021 in einer WM-Quali-Gruppe mit den Niederlanden und Norwegen auf Platz drei liegend, mit jeweils zwei Punkten Rückstand auf die Konkurrenz. Am Ende wurde es hinter Oranje Play-off-Quali-Platz zwei, wo man im Halbfinale an Portugal scheiterte. In der Nations League gelang der Wiederaufstieg in Liga B. Ja, zwischenzeitlich spielte man dort gegen Litauen, Luxemburg und die Färöer.

Vor dem Armenien-Spiel in der aktuellen EM-Quali lag die Türkei an der Spitze der Gruppe – zwar mit zwei Spielen mehr als die Kroaten –, mit einem Sieg gegen Armenien hätte man aber die Verfolger vorentscheidend auf sechs und acht Punkte (Wales, ein Spiel weniger) distanzieren können. Es passierte nicht. Nach jeweils fünf gespielten Spielen stehen die Türken mit zehn Punkten auf Platz zwei, dicht gefolgt von Armenien und Wales mit jeweils sieben Punkten. Aber auch nach oben hin ist noch alles möglich.

Der Verband zog dennoch die Reißleine, feuerte Kuntz und installierte quasi postwendend Vincenzo Montella als neuen Nationalcoach. So richtig verziehen haben sie ihm die verpasste WM-Quali und eine 1:2-Niederlage auf den Färöer-Inseln in der Nations League offenbar nie. „Die türkische Presse spielte eine äußerst große Rolle. Zum Beispiel kann man hier (in Deutschland, Anm. d. Red.) keine Lüge als Meldung veröffentlichen. Denn dagegen kann man rechtlich vorgehen. In der Türkei gibt es dies nicht. Dass einige ausgedachte und frei erfundene Meldungen akzeptiert wurden, ist sehr bedauerlich“, so der 60-Jährige.

Kuntz weiter: „Aber schlimmer als die Presse sind die sozialen Medien. Man kann dies nicht mit Deutschland vergleichen. In anderen Ländern ist es in den Menschen verankert, die Wahrheit zu hinterfragen und nach Beweisen zu schauen. Aber in der Türkei ist es schwer, so etwas zu sehen. Durch die sozialen Medien beginnt ein Druck auf den Spielern und den Vorständen zu lasten.“ Ob seine These stimmt oder nicht wissen wir nicht, sicher ist jedoch: Trainer ist er nicht mehr.

Nun soll es der Italiener Vincenzo Montella richten. Der hat Erfahrung mit der Arbeit in der Türkei, war von 2021 bis 2023 Trainer bei Erstligist Adana Demirspor: „Ich verstehe die Emotionen und die Kultur besser (durch seinen Job bei Adana, nicht im Vergleich zu Kuntz, Anm. d. Red.). Diese Emotionen sind denen in Italien ähnlich, sie erinnern mich an meine Kindheit. Natürlich wird es Leute geben, die mich kritisieren, aber ich werde immer versuchen, mein Bestes zu geben“, gab er auf seiner Vorstellungs-PK zu bekennen.

Die Türkei am Scheideweg

Seine Arbeit beginnt am Donnerstag – und er steht direkt am Scheideweg. Denn mit dem schwersten Spiel in der Gruppe, der Auswärtspartie in Kroatien, steht und fällt der weitere Weg der Türkei. Gewinnen sie, haben sie Chancen auf den Gruppensieg. Man hätte drei Punkte Vorsprung auf den WM-Dritten, der dann aber noch ein Spiel weniger hat.

Helfen könnte der Spirit von 2008: Im EM-Viertelfinale trafen beide Teams im Wiener Ernst-Happel-Stadion aufeinander. Nach 90 Minuten stand es 0:0, in der Verlängerung brachte Ivan Klasnić die Kroaten in der 119. Minute auf die Siegerstraße, ehe die Last-Minute-Türken ihren Namen endgültig erlangten und Semih Şentürk mit einem Tor in der 120. + 1. Minute die beiden Teams ins Elfmeterschießen schickte. Modrić, Rakitić und Mladen Petrić verschossen, die Türken kamen weiter und verloren das folgende Halbfinale schließlich mit 2:3 gegen Deutschland. Stichwort Last-Minute-Philipp-Lahm.

Verliert man aber in Zagreb, sieht die Welt schnell düster aus. Mit Siegen könnten Wales und Armenien punktetechnisch gleichziehen. Am 15.10. folgt die Partie gegen den Letzten aus Lettland (0 Punkte), gegen den man sich in letzter Zeit aber des öfteren schwer tut: Aus den letzten fünf Pflichtspielen gab es zwei Siege und drei Remis. Im letzten Aufeinandertreffen in dieser Quali brauchte es beim 3:2-Sieg wieder die Last-Minute-Qualität, das entscheidende Ding fiel in der 90. + 5. Minute.

Am letzten Spieltag (21.11.) könnte es für die Türken dann zu einem Showdown in Wales kommen. Die müssen allerdings noch gegen Kroatien und Armenien ran, irgendjemand wird sich also vermutlich die Punkte wegnehmen. Parallel muss Armenien nach Spielen gegen Lettland und Wales in Kroatien ran. Die Konstellation ist recht simpel: Alles gewinnen und sich für die EM qualifizieren. Rutscht man selbst aus, muss man hoffen, dass Armenien und Wales z.B. gegen Kroatien mindestens genauso hart ausrutschen.

Ein erneutes Verpassen eines großen Turniers wäre so katastrophal wie typisch in der jüngeren türkischen Fußball-Geschichte. Seit 2002 nahm man nicht mehr an einer WM teil, seit 1996 verpasste man zwar nur 2004 und 2012 die EM-Endrunden – seit dem Halbfinale 2008 war aber immer in der Vorrunde Schluss.

Übrigens: 2004 scheiterte man in den Playoffs an Lettland, 2012 an Kroatien. 2016 hatte man Kroatien, 2021 die Waliser in der Gruppe. Wenn das mal kein Omen für die letzten drei Spiele ist. So oder so sind es gerade wegweisende Wochen für den türkischen Fußball.


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